RA Detlef Wendt, Recklinghausen
Diesen Beitrag gestatte ich mir zu schreiben, weil ich immer öfter lesen und hören muss, dass Anwälte und Notare sich über einen eklatanten Bewerbermangel an Auszubildenden beklagen und, was ich als besonders erstaunlich dabei empfinde, scheinbar vollkommen ratlos sind, was die Ursache dieses Phänomens sein könnte. Vermutlich würde ich mit diesem Beitrag, bezöge er sich auf einen anderen als den freien Beruf, in einem asozialen Netzwerk einen Shitstorm produzieren, der sich gewaschen hätte. Diese Gefahr sehe ich allerdings bei Anwälten und Notaren eher nicht. Gleichgültigkeit ist nämlich in der Angelegenheit, um die es hier geht, eines der hervorstechendsten Merkmale unserer Zunft. Damit meine ich nicht die gegenüber Mandanten, denn von denen leben wir, auch nicht die gegenüber Gerichten, denn von ihnen sind wir, zumindest die meisten von uns, in gewisser Weise abhängig, nein, ich meine die gegenüber den Auszubildenden, den unentbehrlichen Helferlein, deren von uns ihnen entgegengebrachte Wertschätzung von der eines Herrn Düsentrieb gegenüber seinem Helferlein so weit entfernt ist wie die Sonne vom Mond.
Wir, diese elitären Geisteswissenschaftler, die es sich zum Ziel gesetzt haben, Menschen zu helfen, die Sprache, Gestik und Mimik bis ins Kleinste zu beherrschen glauben, uns mit unserer Ausbildung für prädestiniert halten, große Unternehmen zu leiten, ja sogar Staaten als Kanzler oder Präsidenten vorzustehen und im Übrigen Fortbildungsmaßnahmen ausschließlich dann – und auch in diesem Fall nur in dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestumfang – besuchen, wenn es für die Fortführung eines Fachanwaltstitels notwendig ist, sind offenbar komplette Versager, wenn es darum geht, junge Menschen davon zu überzeugen, diesen Weg mit uns zu gehen, als ernst genommener und wertgeschätzter Mitarbeiter, der uns den bei der Rettung der Welt im Wege stehenden Kleinkram abnimmt, die Telefonate, die Vorgespräche, die Fristenüberwachung, die Schreiben, den Kaffee für die wichtigen Mandanten und die Gänge zu Gericht, zur Post und auch zum Bäcker um die Ecke, wenn wir mal wieder morgens keine Zeit zum Frühstücken hatten.
Ich begann meine Anwaltstätigkeit 1987 zunächst als Angestellter, später als Partner in einer Kanzlei von mehreren Sozien, manchmal drei, dann wieder vier oder fünf, zu Hochzeiten waren wir fast 30 Personen im Büro, incl. Putzfrau, denen die meisten Bosse einen noch geringeren Stellenwert einräumen als den Auszubildenden; mit denen spricht man sowieso nicht, allenfalls dann, wenn beim Putzen des Schreibtischs ein darauf befindlicher Aktenstapel umgeworfen wurde. Oft wurden bei uns jährlich zwei Auszubildende eingestellt, so dass in manchen Jahren sechs jungen Menschen eine berufliche Perspektive gegeben werden konnte. Bei den Bewerbungsgesprächen bediente man sich zu Anfang meiner Tätigkeit eines Rechtschreibtests, der vermutlich von einem der Seniorpartner kurz nach Gründung der Kanzlei entworfen worden ist. Denn wer mag es leugnen: Korrekte Rechtschreibung ist des A und O aller Schriftsätze und dementsprechend auch aller Mitarbeiter, und wer die nicht beherrschte, hatte in keinem Büro, das etwas auf sich hielt, damit auch in unserem nicht, etwas verloren. Wer beispielsweise bei der Niederschrift der Wörter Weinbrand und Branntwein versagte, durfte gehen, gelegentlich soll – ich möchte mich für diese Worte allerdings nicht verbürgen – der eindringliche Rat mit auf den Weg gegeben worden sein, es doch bei einem Discounter an der Kasse zu versuchen oder eine Friseurlehre zu beginnen. Ich müsste lügen, wenn ich behauptete, sicher zu sein, nicht ein einziges Mal in über 30 Jahren in einem Schriftsatz die Worte Branntwein und Weinbrand untergebracht zu haben, habe jedoch so große Zweifel, dass es für den Grundsatz in dubio pro reo mehr als ausreichen würde.
Während meiner Tätigkeit habe ich es zum Glück nicht erleben müssen, habe aber vom Hörensagen – selbstverständlich wissen wir alle, wie unzuverlässig diese Weitergabe von Geschehnissen ist, fast noch dubioser als Stille Post – erfahren, dass es vor meiner Zeit durchaus vorgekommen sein soll, dass Auszubildende das Auto eines der Sozien waschen oder mit dessen Hund Gassi gehen durften. Darüber aufgeregt haben wir Junganwälte uns damals allenfalls am Rande, sollten wir es für aus der Zeit gefallen gehalten haben, hatten wir gar keine Lust, intensiver darüber nachzudenken, denn bei einem zehn- bis zwölfstündigen Arbeitstag in einer Sechstagewoche hatten wir Wichtigeres zu tun, als uns um den Ausbildungsstoff der Auszubildenden Gedanken zu machen. Wenn es dann doch einmal gelang, redeten wir uns ein, dass zumindest die erstgenannte Tätigkeit eng mit der Ausbildung verknüpft war, denn jedenfalls damals, also zur guten alten Zeit, fuhr man noch mit dem Auto zu Gericht, und damit war die Fahrzeugpflege Bestandteil der Rechtspflege. Wem die Verbindung zwischen Gassigehen und Ausbildungsstoff nicht sofort geläufig ist, mag an die Tierhalterhaftung in § 833 BGB erinnert werden.
Liebe Kollegen und von mir aus auch -innen (sollten Sie eine genderfreundliche Sprache in diesem Text vermissen, lesen Sie, bevor Sie schimpfen, bitte die Entscheidung des BGH vom 13.03.2018 VI ZR 143/17), machen wir uns nichts vor: Dass Anwälte und Notare unter einem massiven Bewerberschwund für ihre Auszubildenden leiden, haben sie – und ich nehme ausdrücklich geschätzte 5 % der Kollegen hiervon aus, zu denen Sie, der Sie dies gerade lesen, selbstverständlich gehören – ausschließlich selbst verursacht. Wieso? Hier nur einige Gründe:
- Die Arbeitszeit. In wie vielen Kanzleien beginnt sie um 8.00 Uhr und endet um 18.00 Uhr, manchmal sogar noch mit anschießendem Gang zur Post? Ach so, in Ihrer nicht, weil sie den Auszubildenden ja zwei Stunden Mittagspause gönnen? Das ist überaus großzügig von Ihnen, und: Wer macht nicht gerne zwei Stunden Mittagspause im Betrieb?
- Die Bezahlung. Wie oft musste die Kammer in den letzten 20 Jahren die Vergütungsempfehlung heraufsetzen? Und wie oft wurde und wird nicht einmal die eingehalten? Würden die Anwälte von vornherein eine angemessene Vergütung – und das betrifft leider nicht nur Auszubildende – zahlen, bräuchte man keine Empfehlung der Kammer.
- Desinteresse an der Ausbildung. Welcher Anwalt kennt eigentlich die Lehrpläne , die Rahmenbedingungen? Wer hat sich jemals die Lehrbücher angeschaut? Wer hat jemals die Berichtshefte gelesen und mit den Auszubildenden besprochen, und mit Besprechung meine ich nicht die rasche Unterzeichnung beim Rausgehen zu einem Gerichtstermin? Die meisten Anwälte haben nicht einmal eine Ahnung davon, wo genau sich die Berufsschule befindet, wie viele Auszubildende die jeweilige Klasse hat, wer die Lehrer sind und was dort überhaupt gelehrt wird. Und wie viele Anwälte, die doch einmal einen Blick in die von der Schule gestellten Aufgaben gewagt haben, mussten sich eingestehen, dass die Aufgaben teilweise so gehaltvoll sind, dass sie selbst an deren Bearbeitung verzweifeln und ohne eingehendes Studium einschlägiger Kommentare bei der Lösungsfindung hoffnungslos scheitern würden?
- Vermutlich das Schlimmste: Fehlende Wertschätzung, das schmerzliche Resultat aus einer Summe von Einzelteilen, zu denen auch die Nrn. 1-3 zählen. Ich will nicht so weit gehen wie ein mir bekannter Angestellter aus der Personalabteilung einer Sparkasse, zu behaupten, dass viele Anwälte ihre Mitarbeiter wie Leibeigene halten, aber: In welcher Kanzlei haben Auszubildende einen eigenen Arbeitsplatz (von einem eigenen Raum will ich gar nicht erst reden)? Seien wir ehrlich: Die meisten von uns machen sich darüber bei Anmietung von Kanzleiräumen nicht einmal den leisesten Gedanken. Und in wie vielen Kanzleien sitzen die Auszubildenden im Archiv oder im Abstellraum, auf einem ausgeleierten Schreibtischstuhl vor einem verschlissenen Kinderschreibtisch, den der Boss von zu Hause mitgebracht hat? Ich komme zum Glück aus einer für unsere örtlichen Verhältnisse als ordentlich (auch in räumlicher Hinsicht) zu bezeichnenden größeren Kanzlei, kenne aber genügend Büros, in denen das der Fall war, und niemand muss mir bitte erzählen, dass das ein Relikt aus der Steinzeit sei und ich keine Ahnung von den heute herrschenden Zuständen hätte.
Auszubildende haben einen Anspruch darauf, ernst genommen, höflich und angemessen behandelt und wertgeschätzt zu werden. Wertschätzung, liebe Kollegen, ist das Zauberwort, und solange es den Anwälten und Notaren daran mangelt, werden ihnen die jungen Menschen die Bude gewiss nicht mehr einrennen. Und sollten Sie einwenden wollen, an Bewerbern mangele es Ihnen gar nicht, nur deren Qualität lasse zu wünschen übrig, ist gerade auch das eine naturgegebene Folge der jahrzehntelangen mäßigen bis schlechten Behandlung. Gute Bewerber geben sich eben nicht mehr mit schlechter Bezahlung, unmöglichen Arbeitszeiten und geringster Wertschätzung zufrieden.
Ich habe mich früher gelegentlich gefragt, warum beispielsweise Banken und Versicherungen die Auszubildenden von Anwaltskanzleien nach bestandener Prüfung regelmäßig mit Kusshand übernommen haben. Darauf angesprochen sagte mir der o.g. Personaler einer Sparkasse, die Erklärung dafür liege auf der Hand: Azubis von Rechtsanwaltskanzleien seien wahrlich nicht verwöhnt, vielen käme es so vor, als wechselten sie von der Leibeigenschaft ins Paradies.
Wir alle (Sie merken, ich schließe mich trotz mehrjährigen Rentnerdaseins nicht aus), die wir uns über das Ausbleiben von Bewerbungen beklagen, haben es versäumt, den Beruf der Notariats- und Rechtsanwaltsfachangestellten attraktiv zu machen, weil wir lange Zeit den Blick für den Menschen, wenn nicht gar verloren, so aber zumindest tief vergraben haben. Ob Ihnen eine archäologische Meisterleistung im Rahmen einer Ausgrabung gelingt, bleibt abzuwarten. Ich drücke Ihnen zwar nicht hoffnungslos, aber durchaus skeptisch meine alten Daumen.