Vorsicht im Umgang mit widerstreitenden Interessen

Umgang mit widerstreitenden Interessen

– Interessenkollision im Lichte der BRAO-Reform: Was gilt heute, was kommt, was kommt nicht? –

erschienen im KammerReport 3-2021 | 24.09.2021

Rechtsanwalt und Notar a.D. Karl F. Hofmeister, Olpe

Interessenkonflikte und hieraus sich ergebende Tätigkeitsverbote beschäftigen regelmäßig seit Jahrzehnten die Aufsichtsabteilungen der Rechtsanwaltskammern.

Oft wird die Tragweite des Verbotes widerstreitender Interessen in der Kollegenschaft verkannt, will man nicht ohne Weiteres und ohne Not auf ein lukratives Mandat verzichten. Die Entscheider in der Anwaltsgerichtsbarkeit, den Kammern und den Staatsanwaltschaften tun sich oft schwer, den konkreten Fall sachgerecht zu beurteilen und zu entscheiden.

Der Aufsatz soll als Orientierungshilfe zum Thema Interessenkollision dienen, wobei auf eine umfassende Darstellung der einzelfallbezogenen Rechtsprechung zum Verbot widerstreitender Interessen zu Gunsten der besseren Übersicht verzichtet wird.

Die Rechtsanwaltskammer Hamm hatte folgenden Fall zu beraten und zu entscheiden, der es bis zum Bundesgerichtshof gebracht hat:

Die Beschwerdegegnerin vertrat in einem Scheidungs- und Zugewinnausgleichsverfahren den Ehemann sowie später auch den volljährigen Sohn der Eheleute gegen die Mutter auf Zahlung von Kindesunterhalt.

Im Ergebnis wurde der Beschwerdegegnerin ein belehrender Hinweis wegen Verstoßes gegen §§ 43 a Abs. 4 BRAO, 3 Abs. 1 1. Alt. BORA erteilt. Der Anwaltsgerichtshof hob den belehrenden Hinweis auf, ließ aber die Berufung unter Hinweis darauf zu, dass es für die Annahme einer Interessenkollision auf eine Einzelbetrachtung ankomme, diese Frage aber höchstrichterlich noch nicht geklärt sei.

Der Anwaltssenat des Bundesgerichtshofes hat mit Urteil vom 23.04.2012 1 die Berufung gegen die Entscheidung des AGH zurückgewiesen und die Auffassung vertreten, ein Interessengegensatz sei anhand einer „konkret objektiven Betrachtung“ zu beurteilen. Ob widerstreitende Interessen vertreten werden, könne nicht ohne Blick auf die konkreten Umstände des Einzelfalls beurteilt werden. Maßgeblich sei, ob der in den anzuwendenden Rechtsvorschriften typisierte Interessenkonflikt im konkreten Fall tatsächlich auftrete.

Die Entscheidung des BGH wurde im Schrifttum 2 mit „mehr als überraschend“ betitelt, hatte die Rechtsprechung 3 doch bis dahin die Frage, ob die Interessen der Parteien anhand eines subjektiven oder eines objektiven Bewertungsmaßstabes zu bestimmen seien, in dem Sinne überwiegend entschieden, dass den subjektiven Vorstellungen der Mandanten entscheidende Bedeutung zukomme.

 

I. Ausgangslage

Vor einer Beschäftigung mit weiteren aktuellen Streitfragen bedarf es zunächst eines Blickes auf die rechtlichen Grundlagen; es sind diese straf- und berufsrechtlichen Vorschriften:

§ 356 Abs. 1 StGB lautet:

Ein Anwalt oder ein anderer Rechtsbeistand, welcher bei den ihm in dieser Eigenschaft anvertrauten Angelegenheiten in derselben Rechtssache beiden Parteien durch Rat oder Beistand pflichtwidrig dient, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.

§ 43 a Abs. 4 BRAO lautet:

Der Rechtsanwalt darf keine widerstreitenden Interessen vertreten.

§ 3 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 BORA lauten:

(1) Der Rechtsanwalt darf nicht tätig werden, wenn er eine andere Partei in derselben Rechtssache im widerstreitenden Interesse bereits beraten oder vertreten hat oder mit dieser Rechtssache in sonstiger Weise im Sinne der §§ 45, 46 Bundesrechtsanwaltsordnung beruflich befasst war. …

(2) Das Verbot des Abs. 1 gilt auch für alle mit ihm in derselben Berufsausübungs- oder Bürogemeinschaft gleich welcher Rechts- oder Organisationsform verbundenen Rechtsanwälte. …

Was unterscheidet die verschiedenen Verbotstatbestände und was sind ihre Tatbestandsmerkmale?

  1. In § 356 StGB wird das Verhalten eines Rechtsanwalts unter Strafe gestellt, der bei den ihm in dieser Eigenschaft anvertrauten Angelegenheiten in derselben Rechtssache beiden Parteien pflichtwidrig dient.

In § 43 a Abs. 4 BRAO heißt es nur kurz und knapp, dass einem Rechtsanwalt die Vertretung widerstreitender Interessen untersagt ist.

Die berufsrechtliche Regelung des § 3 BORA ist hingegen detaillierter. In Absatz 2 wird das Verbot auch auf alle in derselben Berufsausübungs- und Bürogemeinschaft verbundenen Rechtsanwälte erstreckt und gilt nach Absatz 3 auch für den Fall des Sozietäts- oder Bürogemeinschaftswechslers.

§ 356 StGB setzt vorsätzliches Handeln voraus, während für die Norm des § 43 a Abs. 4 BRAO jeder schuldhafte, auch fahrlässige Verstoß, genügt.

Eine Besonderheit besteht für Anwälte in einer Sozietät insoweit, als § 356 StGB nicht sozietätsweit gilt.

  1. Tatbestandsmerkmale des § 43 a Abs. 4 BRAO sind:
  • Vertretung 4
    • erfasst wird jede rechtsbesorgende anwaltliche Berufsausübung
  • widerstreitender 5
    • Verhältnis von Dingen, die sich unvereinbar, widersprüchlich gegenüberstehen
  • Interessen 6
    • diese sind rechtlich zu würdigen (nicht bloß wirtschaftliche Interessen)
  • in derselben Rechtssache
    • ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal in § 43 a Abs. 4 (in § 356 StGB und § 3 Abs. 1 BORA ausdrücklich klargestellt)

 

II. Streitfragen

In der Praxis wirft das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen auf Basis der bestehenden Gesetzeslage 7 eine Reihe offener Fragen auf. Die damit einhergehende Rechtsunsicherheit stellt eine Gefahr für die Arbeit eines Rechtsanwalts/einer Rechtsanwältin dar. Die wesentlichen Streitfragen waren bisher – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – folgende:

  • Kann das Einverständnis der Mandanten die pflichtwidrige Vertretung widerstreitender Interessen beseitigen? 8
  • Wann stellen zwei Angelegenheiten „dieselbe Rechtssache“ dar? 9
  • Kann allein der Mandant bestimmen, welche Interessen der Anwalt zu vertreten hat oder sind die maßgeblichen Interessen objektiv zu bestimmen? 10
  • Kann ein Anwalt Parallelmandate führen, also in derselben Angelegenheit für mehrere Mandanten tätig sein, deren Interessen gleichgerichtet sind? 11
  • Welche Auswirkungen hat ein Sozietätswechsel für die aufnehmende und die abgebende Sozietät, wenn der wechselnde Anwalt a) persönlich b) nicht persönlich vorbefasst war? 12
  • Gelten Tätigkeitsverbote auch für Referendare im oder neben dem Vorbereitungsdienst bei Rechtsanwälten bzw. in Anwaltssozietäten und für befristet angestellte wissenschaftliche Mitarbeiter? 13
  • Führt eine vertrauliche Information, die der Anwalt von einer Partei erhalten hat, zu einem Tätigkeitsverbot, wenn die Information aus einem anderen Mandatsverhältnis stammt, diese Information für die neue Rechtssache von Bedeutung sein kann und deren Verwendung im Widerspruch zu den Interessen des Mandanten des vorherigen Mandats stehen? 14

III. Sanktionen

Ein vorsätzlicher Verstoß gegen das Verbot widerstreitender Interessen kann zu einer Verurteilung wegen einer Straftat (§ 356 StGB) führen (s. o).

Darüber hinaus kommen die berufsrechtlichen Sanktionen in Betracht (§ 113 BRAO). In der Regel wird die Rechtsanwaltskammer bei der Generalstaats-anwaltschaft die Einleitung eines anwaltsgerichtlichen Verfahrens gemäß § 121 f. BRAO beantragen. Als anwaltsgerichtliche Maßnahmen kommen (zunächst) ein Verweis und/oder eine Geldbuße in Betracht (§ 114 Abs. 1 BRAO). Bei geringem Verschulden des Rechtsanwalts kann auch eine Rüge (§ 74 BRAO) ausgesprochen werden. Die Rechtsanwaltskammer kann gegenüber dem betroffenen Anwalt auch einen Belehrungsbescheid aussprechen und die Fortführung des Mandates untersagen. 15

Die Mandatsniederlegung kann von dem Prozessgegner auch im Wege eines Unterlassungsanspruchs gemäß §§ 1004, 823 Abs. 2 BGB durchgesetzt werden. 16

Schließlich kommen als zivilrechtliche Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen das Verbot widerstreitender Interessen die Nichtigkeit des Mandatsvertrages gemäß § 134 BGB in Betracht, so dass ggf. vertragliche Honoraransprüche nicht mehr geltend gemacht werden können. 17

 

IV. Neuregelung des § 43 a Abs. 4 durch die BRAO-Reform 18

Die bisherige aus einem Satz bestehende Regelung wird neu und umfassend über drei Absätze formuliert. § 43 a Abs. 4 bis Abs. 6 BRAO lauten künftig:

(4) Der Rechtsanwalt darf nicht tätig werden, wenn er einen anderen Mandanten in derselben Rechtssache bereits im widerstreitenden Interesse beraten oder vertreten hat. Das Tätigkeitsverbot gilt auch für Rechtsanwälte, die ihren Beruf gemeinschaftlich mit einem Rechtsanwalt ausüben, der nach Satz 1 nicht tätig werden darf. Ein Tätigkeitsverbot nach Satz 2 bleibt bestehen, wenn der nach Satz 1 ausgeschlossene Rechtsanwalt die gemeinschaftliche Berufsausübung beendet. Die Sätze 2 und 3 sind nicht anzuwenden, wenn die betroffenen Mandanten der Tätigkeit des Rechtsanwalts nach umfassender Information in Textform zugestimmt haben und geeignete Vorkehrungen die Einhaltung der Verschwiegenheit des Rechtsanwalts sicherstellen. Ein Tätigkeitsverbot nach Satz 1, das gegenüber einer Berufsausübungsgesellschaft besteht, entfällt, wenn die Voraussetzungen des Satzes 4 erfüllt sind. Soweit es für die Prüfung eines Tätigkeitsverbots nach Satz 1 oder Satz 2 erforderlich ist, dürfen der Verschwiegenheitspflicht unterliegenden Tatsachen einem Rechtsanwalt auch ohne Einwilligung des Mandanten offenbart werden.

(5) Absatz 4 Satz 1 gilt entsprechend für die Tätigkeit als Referendar im Vorbereitungsdienst im Rahmen der Ausbildung bei einem Rechtsanwalt. Absatz 4 Satz 2 ist nicht anzuwenden, wenn dem Tätigkeitsverbot nach Absatz 4 Satz 1 eine Tätigkeit als Referendar nach Satz 1 zugrunde liegt.

(6) Absatz 4 Satz 1 gilt entsprechend für ein berufliches Tätigwerden des Rechtsanwalts außerhalb des Anwaltsberufs, wenn für ein anwaltliches Tätig-werden ein Tätigkeitsverbot nach Abs. 2 Satz 1 bestehen würde.

Mit der Neuregelung zu § 43 a Abs. 4 a.F. BRAO wird die bisherige Kurzfassung durch eine ausdifferenzierte Vorschrift ersetzt, die auch Sozietätsfälle regelt. Im Einzelnen:

Das in § 43 a Abs. 4 BRAO a. F. hineininterpretierte ungeschriebene Tatbestandsmerkmal „in derselben Rechtssache“ wird in den Gesetzestext aufgenommen. Absatz 4 Satz 1 n.F. ist im Übrigen wortgleich zu § 3 Abs. 1 BORA formuliert.

In § 43 a Abs. 4 BRAO n.F. wird jetzt bei der Sozietätserstreckung nicht mehr von der „Berufsausübung in der Berufsausübungsgesellschaft“, sondern von der „gemeinschaftlichen Berufsausübung“ gesprochen. Durch diese Änderung soll – so die Gesetzesbegründung – klargestellt werden, dass nicht nur die Gesellschafterinnen und Gesellschafter von Berufsausübungsgesellschaften erfasst sind, sondern auch deren angestellte Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte. Außerdem gilt die Norm jetzt auch für die angestellten Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte von Einzelanwältinnen und -anwälten sowie die freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Kanzleien. Ausdrücklich ausgenommen bleibt die Bürogemeinschaft. Sie soll von der Sozietätserstreckung nicht erfasst werden.

§ 43 a Abs. 4 Satz 4 BRAO n.F. sieht wie § 3 Abs. 2 BORA die Möglichkeit vor, dass die beteiligten Mandanten in Textform der Übernahme eines widerstreitenden Mandats zustimmen, wobei es auf entgegenstehende „Belange der Rechtspflege“ nicht mehr ankommt, jetzt aber zusätzlich verlangt wird, dass „geeignete Vorkehrungen die Einhaltung der Verschwiegenheit sicherstellen“.

Für Kanzleiwechsler stellt § 43 a Abs. 4 Satz 3 BRAO nun klar, dass ein Rechtsanwalt, den aufgrund persönlicher Mandatsbefassung ein Tätigkeitsverbot trifft, dieses für die aufnehmende Kanzlei fortbesteht, die dann ein betreutes kollidierendes Mandat nicht weiterführen oder neu annehmen darf. Für die abgebende Kanzlei stellt Satz 3 BRAO klar, dass deren Rechtsanwälte an das Tätigkeitsgebot gebunden bleiben. Bei nicht persönlicher Mandatsbefassung des Kanzleiwechslers erstreckt sich ein Tätigkeitsverbot nicht auf die Rechtsanwälte der aufnehmenden Kanzlei. 19

§ 43 a Abs. 4 Satz 5 BRAO n.F. regelt eine mögliche Interessenkollision für den Referendar, der nach seiner Zulassung als Rechtsanwalt in widerstreitendem Interesse zu einem Mandat tätig wird, das er als Referendar bearbeitet hatte. Eine sozietätsweite Erstreckung seines Tätigkeitsverbotes auf die gesamte Kanzlei erfolgt indes nicht.

 

V. Was kommt nicht?

Im Gesetzgebungsverfahren zur BRAO-Reform war zunächst auch eine Verschärfung des Verbots der widerstreitenden Interessen bei vertraulichen Informationen aus einem anderen Mandat vorgesehen.  Diese Regelung im § 43 a Abs. 4 BRAO-E war in den Beratungen umstritten und ist ebenso wie im § 45 Abs. 2 BRAO-E wieder ersatzlos gestrichen worden.

 

VI. Fazit und Ausblick

Das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen gehört zu Grundpflichten, die ein Rechtsanwalt als „Organ der Rechtspflege“ (§ 1 BRAO) zu beachten hat. Die Vertretung widerstreitender Interessen kann für einen Rechtsanwalt strafrechtliche, berufsrechtliche und zivilrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Wer ein solches Risiko nicht eingehen möchte, sollte die konkrete Situation stets gründlich prüfen und im Zweifelsfall auf das Mandat verzichten.

Dass die große BRAO-Reform auch das Verbot widerstreitender Interessen regelt und sich das Tätigkeitsverbot bei Interessenkollision auch auf die Sozietät erstreckt, ist zu begrüßen. Es bleibt abzuwarten, wie sich die bisher einzelfallbezogene Rechtsprechung hierauf einstellt.

 

1 BGH NJW 2012, 3039
2 Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, 5. Aufl., Rz. 172 c zu § 43 a
3 Henssler, AnwBl 2018, 342, 346 f.; BVerfG NJW 2003, 2521 – Sozietätswechsler; BVerfG NJW 2006, 2469; BGH Beschl. vom  09.02.2012, BeckRS 2012, 06067
4 Weyland/Träger, BRAO, 10. Aufl., § 43 a, Rz. 66; Henssler/Prütting, a.a.O., Rz. 186 a
5 Henssler/Prütting, a.a.O, Rz. 171;
6 Henssler/ Prütting, a.a.O., Rz.169 f.
7 siehe unten Fußnote 17
8 Henssler/Prütting, a.a.O, Rz. 171; Geier/Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, 3. Aufl., § 3 BORA, R7. 33
9 BGH NJW 2020, 3451; Henssler/Prütting, a.a.O, Rz. 199; -Weyland/Träger, a.a.O., Rz. 61 f.
10 vgl. Gaier/Wolf/Göcken, a.a.O., § 43 a, Rz. 46
11 Henssler/Prütting, a.a.O, R7. 181
12 Diller, AnwBl 2021, 162
13 Schnapp, AnwBl. 2021, 223; Diller, AnwBl Oneline, 2021, 1–4
14 Schnapp, AnwBl, a.a.O.
15 BGH NJW 2012, 3039 Rz.5
16 Deckenbrock, AnwBl Online, 2018, 209
17 BGH NJW 2016, 2561; BGH NJW-RR 2017, 1459
18 Gesetz zur Neuregelung des Berufsrechts der anwaltlichen und steuerberatenden Berufsausübungsgesellschaften sowie zur Änderung weiterer Vorschriften im Bereich der rechtsberatenden Berufe vom 07.07.2021, BGBl.2021 I, 2363; Inkrafttreten zum 01.08.2022
19 vgl. Meinungsstreit Henssler in Henssler/Prütting a.a.O. Rz. 36 zu § 3 BORA

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